Lene-Voigt-Gesellschaft e.V.

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Das Galeriepublikum

Eine Theater-Plauderei

1915

Es zerfällt, oberflächlich betrachtet, in zwei Teile, das Galeriepublikum: in applaudierendes und nichtapplaudierendes. Das erschließt die Frage: Warum applaudieren die Einen? Warum applaudieren die Anderen nicht? Gründe zum Beifallspenden sind: wirkliche Begeisterung, Personenhuldigung und Gewohnheit, Motive des Schweigens: Insichgekehrtsein, Nervosität, Blasiertheit und Verständnislosigkeit.

Ob nun das Applaudieren an sich den Gebildeten oder den Ungebildeten kennzeichnet, ist eine Streitfrage, die Jeder nach persönlichem Empfinden zu lösen hat. Ich denke, in unserer blasierten Zeit ist es einfach ein Labsal, hier und da echte Begeisterung, durchgehenden Enthusiasmus zu finden. Mit der »Bildung« hat das überhaupt nichts zu tun.

Zahllos sind nun die Spezialklassen des Galeriepublikums, die aber immer wieder, sei es bei Oper, Operette oder Schauspiel, in mehr oder minder typischen Exemplaren auftauchen. Ich teile sie mir ein in die Renommisten, die Schulmeister, die Schwätzer und die Sonderlinge. Wenn ich durchaus verdammt sein sollte, zwei dieser Spezies als Nachbarn zu haben, dann würde ich mich bestimmt für die Sonderlinge entscheiden, da diese wenigstens während der Handlung Stillschweigen beobachten. Bei den drei anderen Gattungen ist das nämlich meistens nicht der Fall, vorausgesetzt, daß sie nicht eingeschlafen sind.

Charakterisiert sind die Sonderlinge, die zumeist aus bedenklich jungen Männern mit noch bedenklicheren Haarschöpfen bestehen, kurz dadurch, daß sie vier Akte lang mit verschränkten Armen auf einem Fleck sitzen, die Brauen düster zusammenziehen, selten auf die Bühne sehen und von Jedem, der durch die Reihe will, wiederholt gebeten werden müssen, sich vom Sitz zu erheben. Dann schrecken sie furchtbar zusammen, schnellen empor und verlieren dabei garantiert das Programm oder Opernglas.

Eine wahre Landplage sind die Renommisten und Schwätzer. Eigentlich bilden sie eine Gruppe, doch teile ich sie mir nach den Themen ihrer Redeergüsse in zwei Sorten ein. Die Schwätzer erzählen mir vor Beginn der Vorstellung treuherzig und ausführlich ihre Familienverhältnisse, natürlich mit der ziemlich deutlichen Aufforderung, ich möchte das gleiche tun. Auch Legenden von Gehalt und Stand sind sehr beliebt. Eine besondere Klasse von Schwätzern, meist recht auffallend geputzt, versichert regelmäßig den Nachbarn zur Rechten und zur Linken: »Ich bin heute in der Eile gar nicht dazu gekommen, mich »anständig« anzuziehen. Die alte Bluse da trage ich sonst nie mehr für’s Theater!« Trotzalledem bin ich aber fest davon überzeugt, daß die Betreffenden just die erste Garnitur auf dem Leibe haben. Aber man doch immer so tun, als hätte man noch viel bessere Sachen. Die Entgegnungen der Umsitzenden: »Aber Fräulein, Ihre Bluse ist doch ganz reizend«, nimmt die Angeredete dann gewöhnlich, süß-sauer lächelnd, mit dem geistvollen »Für Wochentags geht’s« hin.

Nun zu den Renommisten, meist bestehend aus 16-18jährigen Menschenkindern beiderlei Geschlechts. In vereinzelten Exemplaren treten auch Damen in den fünfziger Jahren als solche auf. Die Renommisten sind stets mit sämtlichen Hauptdarstellern persönlich bekannt – Verzeihung – gut bekannt. Sie erzählen Jedem, der es hören oder nicht hören will, den Lebenslauf der Helden und Heldinnen. Es ist selbstverständlich, daß sie bei allen Künstlern schon eingeladen waren und gebeten worden sind, eine Photographie anzunehmen. Auch auf dem Wege zum Theater haben die Renommisten stets fabelhaftes Glück. Beim Billettholen treffen sie entweder die Tragödin oder den Oberregisseur an der Kasse, in der Straßenbahn saßen sie neben dem Tenor X., der sie natürlich sofort angelächelt hat. Auch leben die Renommisten in den denkbar günstigsten Wohnungsverhältnissen. Äußert man sein Erstaunen über die allzu gründliche Sachkenntnis der Verhältnisse der Primadonna Soundso, dann meint solch Renommist mitleidig lächelnd:« Ja, wissen Sie, die Freundin von meiner verheirateten Schwester wohnt doch im Hintergebäude von der Frau D. ihrer Etage!« S’ sind eben Glückskinder, diese Renommisten!

Aus Herren der Schöpfung im Alter von 30 bis 40 Jahren setzen sich die Schulmeister zusammen. Seltener sind die weiblichen Vertreter, dieser Klasse. Hat man das betreffende Stück noch nicht gesehen und war man so unklug, dies laut werden zu lassen, ist man dem Schulmeister für den Verlauf dieses Abends verfallen. Mit Schonungsloser Gründlichkeit macht er uns auf tausend Einzelheiten aufmerksam, ohne uns dabei in irgend einer Weise wirklich zu belehren. »Und wissen Sie, nachdem sich das Volk nach rechts verlaufen hat, müssen Sie schnell nach links hinten gucken! Aus der Ecke kommt nämlich dann die Micaëla!« So und auf ähnliche Art bearbeitet der Schulmeister sein Opfer. Direkt spaßig wirkt es, wenn wir uns von ihm ein Stück »erklären« lassen müssen, daß wir zufällig selbst des öfteren gesehen haben. Dann haben wir erst den richtigen Begriff von dieser Art Belehrung. Zu nett ist es, wenn unser Maëstro uns versichert, daß ihn nichts so hinreißt, wie die und die Stelle, und wir überraschen ihn dann in ebendiesem Moment bei einem selbstvergessenen Gähnen.

Daß es neben all den Genannten noch ein gut Teil Durchschnittsmenschen auf dem »Olymp« gibt, nämlich solche, die sich weder nach der einen noch der anderen Seite hin durch unliebsame Eigenschaften hervortun, ist selbstverständlich. Sie repräsentieren die Annehmlichkeit im Umgang mit Menschen, haben aber auf Grund ihres harmonischen Wesens kein Anrecht, an dieser Stelle gewürdigt zu werden.


Datum: Samstag, 1. Januar 2000
Kategorien: Leseproben

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